Nicht nur ich, sondern auch mein Umfeld hat immer mehr das Gefühl, dass die Realität zur Zeit an akutem Realitätsmangel leidet.

Ein paar lose aufgereihte Beispiele aus meinen letzten Wochen:

Das “und alle so: Yeaahh”-Plakat war für mich und mein Umfeld nicht nur der gelungenste Kommentar zu dieser Trauerveranstaltung names Wahlkampf, sondern auch so ziemlich das witzigste, was mir in den letzten Monaten über den Weg gelaufen ist. Und immer noch, nach der gesamten medialen Verwurstung schafft es der Anblick des Plakats, mir ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern.

Das allein gäbe schon genug Anlass zur Sorge. Unsere vielgelobte Demokratie, bzw. unsere Meinung von dem, was davon übrig ist, lässt sich auf einen hingekrizelten Kommentar reduzieren. Post-Demokratie, indeed.

Ähnlich wie Johnny ist es aber dann die Art und Weise, wie das Plakat (und vor allem die daran angeknüpften Flashmobs, die nie echte Flashmobs waren) von den alten Medien verwertet und kommentiert werden, die mich glauben lässt, dass ich mich in einer komplett anderen Dimension, mithin also einer anderen Realität, befinde als der arme Redakteur des BR, der leider sehr sehr deutlich macht, dass er den Witz nicht verstanden hat. Hätte er doch geschwiegen.

Die Musikindustrie.

Okay, reicht nicht – fasst das Problem aber sehr elegant zusammen. Dieses Konglomerat aus alternden Suffköpfen bzw. Koksnasen, Controller-Hanseln und vielen, vielen Menschen, die scheinbar nichts von Musik verstehen, bzw. halten, sehen schon seit geraumer Zeit ihre Felle davon schwimmen. Vollkommen zurecht. Denn wer jetzt noch nicht begriffen hat, dass die Musikindustrie ihre Daseinsberechtigung in den letzten Jahrzehnten vor allem durch die Produktion von Tonträgern (und den damit verbundenen Marketing-Aufwänden) gewonnen hat, woraus (manche mögen sagen: leider) messerscharf zu schließen gilt, dass das was davon übrig bleiben wird, wohl kaum noch den Namen “Industrie” verdient hat, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.

Dass die alternden Koksnasen einen sehr engagierten Rückzugskampf führen, geschenkt. Dass es vielleicht keine gute Idee ist, seine Kunden pauschal zu kriminalisieren, ja, mei, die Musikbranche ist in dieser Erkenntnis ja wenigstens teilweise (durch die weitestgehende Abschaffung von DRM) den anderen Medienbranchen voraus geeilt.

Dass man vor lauter Industrialisierung irgendwo in den 80ern oder 90ern scheinbar vergessen hat, dass es eigentlich auch um Kunst geht, ist dagegen tragisch. Es tauchen dann Sätze in Kongress-Programmen auf wie diese:

“Besonders in der aktuellen Post-Sampling-Phase nutzt mittlerweile die Mehrheit der aktuell produzierten Tracks dieses Kompositionsverfahren, um in einer unmittelbaren Rückkoppellung mit dem breiten Pulikum eine tragfähige Basis aufzubauen, auf der die kostenintensiven Produkte der Pop-Industrie nicht zuletzt mit einer gewissen Planungssicherheit platziert werden können.”

(Geschrieben hat das ein Musikwissenschaftler namens Dr. Volkmar Kramarz)

Oder aber, es findet ein BarCamp zur Zukunft der Musik statt (FutureMusicCamp), dessen kompletter Inhalt bis auf zwei Sessions komplett frei von originären Musik-Themen ist.

Wirklich: Es gibt da ein paar wichtige Fragen zu klären: Wie schaffen wir es, dass ein Künstler (Vollkommen egal, welcher Gattung), in Zukunft seine Kunst ausüben kann und sein Einkommen gesichert ist. Man beachte: Ich habe mit Absicht nicht geschrieben “und er von seiner Kunst leben kann”, denn das ist aus meiner Sicht überhaupt nicht relevant. Was ich auch nicht gefragt habe: Wie schaffen wir es, dass die gesamte Musikindustrie (Und die gesamte Filmindustrie, und die gesamte Buchindustrie) weiterhin genau so gut wie bisher existieren kann. Denn das interessiert mich überhaupt nicht. Nicht als Künstler (in meinem Fall sollte ich vielleicht besser den Autor aus dem Hut zaubern) und nicht als Musikhörer.

Wir müssen diese Fragen beantworten. Aber eines ist (zumindest in meiner Realität) sehr sicher: Wenn wir nicht irgendwas total falsch machen, sind Veranstaltungen wie der Kiezkongress (“Musikwirtschaft Rockt!”) bald ähnlich traurige Veranstaltungen wie das Jahrestreffen der Deutschen Bergmannschaft.

Mit anderen Worten: Lasst uns bitte diesen vercontrollerten Mittelbau abschaffen, möglichst effiziente Wege der Distribution direkt vom Künstler zum Rezipienten schaffen und ansonsten einfach mal wieder das machen, was diese Branche total verlernt hat: Kunst als Kunst zu begreifen und nicht nur als Ware, die man auf einen Markt hinoptimieren muss (Vgl. Kramarz).

Nur ganz kurz: Ich bin ganz froh, dass die Finanzbranche scheinbar wirklich gar nichts begriffen hat nach den Ereignissen der letzten Jahre. So ist die nächste Krise schon vorprogrammiert und Krisen sind bekanntlich auch immer Chancen. My ass.

Die Autoindustrie dürfte bitte in meiner Realität auch einfach still und leise sterben. Ja, auch da wieder die Frage, wie man die vielen Autobauer denn ernähren soll in Zukunft. Aber vielleicht finden wir da ja mal eine andere Antwort drauf als Milliarden in Unternehmen zu stecken, die dann trotzdem mehrerere zig tausend Menschen in die Freitheit der Erwerbslosigkeit entlässt? Und wenn nicht jetzt dann später?

So. Reicht jetzt. Ich beschäftge mich morgen dann mal auf dem Coworking-Day mit der Zukunft von Arbeit und Arbeitsorganisation. In meiner Realität muss ich mich sowieso alle paar Jahre neu erfinden. Und das macht auch noch Spaß.